Nigel Kennedy hat gestern das Deutschen Haus in Flensburg gerockt. Ein irrer Typ, ein grandioses Konzert! Nur ein paar Besucher haben gestört, die ihre Plätze – mit Vorliebe die in der Mitte einer Reihe – kurz vor Schluss bei einem besonders leisen Solo besonders tollpatschig verließen. Und der unausgesprochene Verhaltenskodex für Klassikkonzerte, der mich auf den Klappstuhl in der letzten Rangreihe klebte. Deswegen an dieser Stelle ein – zumindest zum Ende hin etwas geschummelter – Konzertrückblick.
Klassikparty statt Sitzkonzert
Der große Saal ist bis in die letzte Ecke bestuhlt; jeder Stuhl bereits zehn Minuten vor Konzertbeginn warmgehalten von erwartungsfrohen Musikliebhabern. Selbst in den Rängen sind alle Klappsitze voll entfaltet. Das Licht verkriecht sich aus dem Saal und konzentriert sich farbenfroh auf die Bühne.
Die ersten Musiker nehmen ihre Plätze ein. Violinistinnen in langen schwarzen Kleidern setzen sich, Streicher in Anzügen, weißen Hemden und Fliege nehmen ihre Positionen ein, ein Kontrabass stellt sich mit seinem Spieler in die letzte Reihe, ganz vorn nehmen zwei schwarz-leger gekleidete junge Männer ihre Gitarren auf den Schoß.
Dann erobert ein kleiner Mann die Bühne, mit Bierbauch, der sich wohlig über eine grauschwarzen Jeans mit Schritt knapp über den Kniekehlen und unter einem etwas schmuddelig langen Shirt wölbt, dazu neonfarbene Turnschuhe, Lederjacke, Geige und Bogen: Nigel Kennedy ist da. Und stellt erstmal den Cellisten vor, als sei er sein bester Buddy. Er lobt ihn in höchsten Tönen und mit typisch britischem Slang. So recht umgehen kann der zurückhaltend wirkende Mann mit diesem Einstieg nicht. Kennedy bemerkt es, spricht es aus, lacht und beginnt seine Bühnentalkshow.
Der Stargeiger mit dem angedeuteten Irokesen auf dem inzwischen eher schütteren Schopf verwickelt mal einzelne Instrumente, mal das ganze Orchester in Dialoge mit seiner Geige. Mit den Tönen, die er aus seinem Instrument streicht und zupft, ist er mal Stichwortgeber, mal zurückhaltender Mitdiskutant, mal Moderator, mal begeisterter Zuhörer.
Zwischen den Stücken stellt er immer wieder weitere Musiker vor, allesamt grandiose Spieler, alte Freunde, „Libeleins“, die er mit Fist Bump oder Knuff an die Schulter abschlägt. Ohnehin ist Nigel, wie er sich selbst kurz vorstellt, den ganzen Abend in Bewegung – und das nicht nur mit dem Bogen, den er immer wieder in rasender Geschwindigkeit zielsicher über die Saiten fahren lässt.
Häufige Tempiwechsel und unerwartete musikalische Einwürfe in bekannte klassische Themen begleitet der Stargeiger mit Ausfallschritten und Hüpfern. Kraftvoll stampft er den Takt in den Bühnenboden, durchmisst seinen Platz vor dem Orchester mit großen Sprüngen und steht im nächsten Moment mit Satz, Strich und frechem Lachen zurück in der Mitte, wo er seine Geige in Tonlagen treibt, die an zartes Vogelgezwitscher erinnern, bevor nach einem Nicken erneut der gewaltige Klang des gesamten Streichorchesters den Raum füllt.
So viel unbändiger Bühnenspaß ist ansteckend: Während zwei Gitarrenspieler sich zu einem musikalischen Streitgespräch hochspielen, klappen zwei Plätze im Rang fröhlich quietschend nach oben. Zwei junge Frauen klettern, beäugt von ihren Sitznachbarn, über die Lehne und erobern mit ihrer Begeisterung wirbelnd den schmalen Streifen Platz hinter der letzten Reihe. Nigel entdeckt sie, lacht und applaudiert.
Das ist der Startschuss. Am Ende des gut dreistündigen Konzertes sind alle Stühle im großen Saal an den Rand gerückt; auf den Sitzflächen liegen nur noch die hochhackigen Schuhe einiger Gäste, die barfuß und fernab der für Klassikkonzerte üblichen Zurückhaltung den Stargeiger feiern, der erst nach etlichen Zugaben erste Anstalten macht, die Bühne verlassen zu wollen.
Gegen Mitternacht ist dann aber auch er erschöpft. Nigel soll jedoch Augenzeugenberichten zufolge gegen zwei Uhr in der Früh noch mit ein paar Konzertgästen und Musikerkollegen bei einem Guinness in der Stadt gesehen worden sein. Vermutlich einer der wenigen Momente dieses Abends, in denen er saß.
Sollte jemand Klassikpartys als neues Format entdecken – oder bereits entdeckt haben: Ich bin dabei!