Ich habe den Vertrag mit meinem Fitnessstudio gekündigt. Stattdessen habe ich heute früh Nackenübungen mit Wolfgang gemacht. Ich kenne Wolfgang nicht. Er kennt mich auch nicht. Wolfgang hat sein Studio bei youtube – ohne flackernde Bildschirme und grell bekleidete Mitschwitzer. Er ist meine Notlösung – zumindest, bis in meiner Nähe ein „Tüchtich“ eröffnet. Mein erstes Probetraining habe ich gedanklich schon absolviert.
Leibesübungen und Schokoküchlein
Am Samstag eröffnet das „Tüchtich“. Der neue „Treffpunkt für Leibesübungen“ ist bereits seit Wochen das Gesprächsthema im Viertel. Einige Journalisten durften schon vorher – wortwörtlich im Schweiße ihres Angesichts – einen Blick hinter die Eingangstür werfen. „Bringen Sie bitte einen Turnanzug, ein Handtuch und Sportschuhe mit“, stand auf der Presseeinladung.
Zusammen mit einem Kollegen stehe ich mit meiner Sporttasche vor der angegebenen Adresse. Ein eher schmales Haus aus der Gründerzeit: Sprossenfester, ein Eingangsportal mit zwei weißen Säulen, die einen kleinen Balkon tragen. Der Kollege, Bernhard, guckt auf die Uhr. Wir sind etwas zu früh – ein untrügliches Zeichen für große journalistische Neugier. Kurz darauf geht die dunkle solide Holztür auf und eine Türglocke gibt den Startschuss für den Termin.
Tine Benz begrüßt uns gut gelaunt. „Da sind ja unsere schreibenden Testsportler“, sagt die junge Frau in Jeans, langem weißem Herrenhemd und Retro-Turnschuhen. Sie zeigt auf ein großes grünes Samtsofa. Kollege Bernhard guckt etwas unglücklich auf seinen recht ausladenden Bierbauch. „Setzen Sie sich ruhig noch kurz hin. Ich hole meine Oma.“ Wir setzen uns natürlich nicht, sondern gucken uns neugierig um: Plüschsofas, alte Holzstühle mit hohen Lehnen, kleine runde und etwas größere rechteckige Stühle aus poliertem dunklen Holz. Es sieht aus wie in einem Café, in dem Damen ihre Hüte auflassen, während sie mit abgespreiztem kleinen Finger eine Tasse „frisch Aufgebrühten“ trinken.
Das Stäbchenparkett auf dem Boden glänzt premierefein, die Spitzendeckchen auf dem Holztresen links vom Eingang sind frisch gebügelt. Dahinter seitlich zwei hohe Türen, die eine Schlüsselwand in ihre Mitte genommen haben. An kleinen weißen Haken hängen rund 80 Schlüssel mit Ziffern auf einem kleinen Anhänger. „Hat ein bisschen Hotellobby-Charme“, bringt Bernhard es auf den Punkt. Nur ist das „Tüchtig“ weder ein Café noch ein Hotel.
Ehe wir dazu kommen, eine der zwei große doppelflügige, cremeweiß gestrichene Holztüren zu öffnen, hinter denen wir sicher die ein oder andere Antwort auf unsere Neugierde finden, weist uns eine tiefe Frauenstimme freundlich zurecht. „Hier wird nicht geschummelt. Wir warten noch auf einen Kollegen.“ Elise Benz ist eigenen Angaben nach „um die 80 Jahre“ alt, schlank, fast sehnig. Beim Anblick ihres marineblauen Adidas-Trainingsanzuges muss ich einfach schmunzeln. Sie bemerkt meinen Blick sofort. „Fragen Sie jetzt nicht, wo ich das Retro-Teil herhabe, junge Frau! Der ist noch Original.“ Ich lache. „Meine Enkelin kennen Sie ja schon. Ich bin die zweite Geschäftsführerin. Elise Benz. Guten Morgen und… ach, da sind Sie ja auch endlich“, begrüßt sie Tom, unseren jetzt nicht mehr fehlenden Kollegen, der in Trainingshose und eng anliegendem Funktionshirt das „Tüchtich“ betritt.
Tom bezeichnet sich selbst als „Extremsportler“, seit er einmal im Urlaub beim Wildwasserdrafting einen kleinen Wasserfall runtergefahren ist. Angesichts der wenig beeindruckten Dame, die ihn da soeben zurechtgewiesen hat, wirkt er etwas irritiert. „Dann ziehen sie sich mal alle um. Die Dame hinter dem Tresen links, die Herren rechts.“ Sie drückt jedem von uns einen Schlüssel mit Nummer in die Hand.
Die „Umkleidekabine“ ist ein hoher Raum ohne Fenster. An den Wänden stehen Möbel, die man am ehesten als „Antik-Spinde“ bezeichnen könnte: schmale, etwa 1,50 Meter hohe Schränke aus Holz – jeder mit einer kleinen Nummernplakette in Augenhöhe. Ich suche meine Schlüsselnummer, lege meine Straßenklamotten in die Regalfächer, hänge meine Jacke über den behäkelten Kleiderbügel und verschließe dieses freundliche Stillleben. Ein schneller, erstaunter Blick in die bunt geflieste „Brause“ mit Wasserschläuchen, Kommoden mit eingelassenen Waschschüsseln, Rückenbürsten und kleinen Sitzbadewannen und ich gehe durch die zweite Tür raus. „Leibesübungen“ steht in Schreibschrift auf der Wand.
Meine beiden Kollegen sind schon da. Bernhard in seiner bunten, etwas ausgebeulten Shorts und einem T-Shirt vom Wacken Open Air 2011. Tom hat nur seine Sneaker gegen seine Indoortrainingsschuhe getauscht und macht sich schon einmal ein bisschen „locker in der Nackenmuskulatur“, wie er uns ungefragt erklärt.
„Sie machen jetzt mit mir einen Trainingsrundgang. Ich erzähle ihnen ein bisschen was und wenn sie welche haben, können Sie Fragen stellen. Aber erstmal aufwärmen.“ „Widerstand zwecklos“, höre ich noch, aber das war wohl Einbildung. Schon bevor sie es erzählt, hatte ich keine Zweifel: Diese Frau war einmal Lehrerin, „Gymnastiklehrerin bei der Bundeswehr“ genau genommen. Elise Benz, oder „Fräulein Sander“, wie sie damals noch hieß, schickt mich zu einer blauen Turnmatte, hinter der drei riesige Holzreifen hängen; Bernhard nimmt die Station mit dem Springseil und Tom wird in das „Treppenrund“ geschickt – eine Konstruktion, in der der „Leibesübende“ zur „Ertüchtigung der Blutzirkulation“ Treppenstufen hoch und runter steigt. Jede Runde muss er selbst zählen, indem er jeweils eine der durchnummerierten Pappkarten umschlägt, die an einer Spiralbindung an einem Teil des Treppengeländers befestigt sind.
Nach zehn Minuten Hulahupp unter Tines Anleitung bin ich definitiv warm. Bernhard schnauft und Tom versucht mühsam, seinen Atem ruhig und entspannt klingen zu lassen. „Oma und ich haben immer schon zusammen Sport gemacht – ganz ohne viel Schnickschnack“, erklärt Tine. „Außerdem spart das Strom“, ergänzt ihre Großmutter. Und es ist viel leiser, hübscher und ferundlicher, denke ich. Kein mechanisches schnarren oder Rollen, keine blinkenden Anzeigen, die mich wahlweise durch programmierte Leistungssteigerungen gnadenlos antreiben oder mit albernen Angaben wie Kalorienverbrauch und prozentual erreichter Gesamtleistung motivieren wollen.
Unsere nächste Station ist das Kernstück des „Tüchtich“: die „Zirkeltrainings-Runde“. Auf den ersten Blick sehen die großen blauen Weichmatten richtig gemütlich aus – bis Elise und Tina uns auffordern, darauf 20 mal aus der Hocke hochzuspringen. „Wenn das zu schwer ist, laufen Sie einfach locker auf der Stelle“, sagt sie. Bernhard wechselt ins Laufen. Locker sieht das trotzdem nicht gerade aus.
„Wir wollen den Leuten zeigen, was sie alles mit ihrem Körper machen können, um alle Gelenke gut beweglich zu halten“, erklärt Tine. „Und das ist nicht nur für Ältere wichtig“, doziert die zweite Geschäftsführerin. Medizinbälle an ausgestreckten Armen halten oder auf dem Rücken liegend mit den Füßen hochheben, Liegestütz mit einer Hand, balancieren auf dem Schwebebalken, hochdrücken von einer Holzbank … zu jeder Station erklären Tine und Elise Benz, welche Muskelgruppen wir dabei trainieren und wie wir die Bewegungen richtig ausführen.
Nebenbei berichtet die Enkelin von ihren eigenen Erfahrungen in diversen Fitnesstudios. „Da war es laut, steril, langweilig und alles auf Englisch“, fasst sie zusammen. „Oma ist da ein echter Sturkopf, Englisch ist für sie `moderner Kram`. Eine Trainerin hat sie mal in den Wahnsinn gerieben, weil sie immer gefragt hat, ob sie ihr die `Butterfliege` neu einstellen kann“, verrät die Jüngere, als ihre Großmutter und Geschäftspartnerin kurz verschwindet, um den Kuchen aus dem Ofen zu holen.
„Sie meinte den Butterfly…“, holt Tine mich aus meiner kurzen Irritation. Sie hätten dann zusammen ein bisschen rumgesponnen – die ehemalige Gymnastiklehrerin und die ausgebildete Ergotherapeutin, die jetzt noch ein Sportstudium draufsattelt. „Wir haben gespart und als mein Opa gestorben ist, wollte Oma unbedingt ein großes Projekt starten.“ Trauern sei nicht so ihre Sache. „Und es hält sie beschäftigt und fit“, übersetzt die Enkelin. Die beiden sind ein gutes Gespann. Zum Team kommen noch zwei Kommilitonen von Tine Benz. „Den Mietvertrag haben wir für vier Jahre unterschrieben. Mal sehen, wie es läuft.“
Apropos Kuchen und Backofen: Meine kurzzeitige Irritation bei Elise Benz Verschwinden klärt sich nach dem Training auf. Nach ausgiebigen Dehnübungen auf der Matte gibt es Tee und Schokokuchen. „Wer viel Sport macht, braucht auch viel Energie“, sagt die drahtige Frau mit den weißen Haaren. Sie hat den Kuchen extra zu unserem Termin vorbereitet.
Dieser Part der „Leibesübungen“ kommt bei Bernhard besonders gut an. Auch Tom gibt zu, dass der Kuchen viel besser schmeckt als die Energieriegel, die es sonst in Fitnessstudios gibt. „Und die Sache hier ist selbst für mich eine kleine Herausforderung“, ergänzt er noch. Das ist höchstes Lob aus dem Munde des „Extremsportlers“. Gestärkt gehen wir duschen und ziehen uns um.
„Noch Fragen?“ Wieder in Straßenkleidung stehen wir vor dem Tresen und dem ungleichen und doch gut eingespielten Geschäftsführerinnen-Duo. Bernhard und ich gucken uns an. „Sobald ich wieder zu Atem gekommen bin, bestimmt. Ich ruf Sie an“, sagt er. Ich schließe mich an – und hüpfe trotz müder Beine die vier Stufen vom „Tüchtich“ runter. „Tom sitzt noch in einer der Badewannen“, verrät mir mein Kollege.
Enkelin, Oma, Journalistenkollegen – allesamt erfunden.
Sollte irgendwo ein „Tüchtig“ eröffnet haben, reise ich aber gern mit gepackter Sporttasche zum Probetraining an.