Bibliothek einmal umsortiert

Imkefrei erfundene Projektporträts

Neulich habe ich meine Freundin in Köln besucht. Sie sortiert ihre Bücher nach Farben. Ein paar gelbe Bücher haben für ein paar überraschend unterhaltsame Stunden und den Wunsch nach einer „Bibliophilothek“ gesorgt. Sollte sie irgendwo eröffnen: Ich hätte da einen Artikelvorschlag.

Leseentdeckungen für Querdenker

„Gelber Salon“, „Blaue Galerie“, „Grüne Ecke“ … Wer die kleine Jugendstilvilla in der Mitte des kleinen Örtchens Buselby betritt, stößt zunächst auf einen Wegweiser. Dieser Ort hat System. Kein solches, das Bücherfreunde üblicherweise in einer Bibliothek vorfinden, aber auch die Irritation hat System: Hier sollen Besucher von den ausgetretenen Pfaden weggelockt werden. Ein Rundgang mit der leitenden Bibliothekarin von Deutschlands erster, selbst ernannter „Bibliophilothek“.

„Schön, dass Sie da sind.“ Inke Inken fängt mich schon vor dem Infotresen ab. Die 46-Jährige hat Literaturwissenschaften studiert, ist gelernte Bibliothekarin und leitet diesen einmaligen Buchort. „Das ist wie mein eigenes Wohnzimmer hier. Ich war schon da, als hier noch `Dorfbücherei` am Eingang stand. Irgendwann waren wir dann allemann hauptsächlich damit beschäftigt, Bücher abzustauben und alte Registerkarten in Schönschrift neu anzulegen “, sagt sie und schmunzelt. „Das war nix für mich.“

Das nimmt man dieser quirligen Frau in abgewetzter Jeans, langer Bluse und braunen Lederboots sofort ab. Mit der in Filmen gern zitierten, über eine Lesebrille griesgrämig dreinblickenden Bibliotheksangestellten, die bei dem leisesten Geräusch warnend den Zeigefinger an die zusammengepressten Lippen drückt, hat sie so gar nichts gemein.

„Eigentlich ist die `Bibliophilothek` die Idee einer Frau, die ich im Urlaub in einer großen Buchhandelskette erlebt habe.“ Während sie von ihrer Begegnung erzählt, gehen wir vom beruhigenden Schnaufen und Blubbern der Kaffeemaschine im Erdgeschoss begleitet, über die offene, ausladend geschwungene Treppe in den ersten Stock.

Die Geschichte, die Inken auf dem Weg erzählt, weckt bei mir sofort Erinnerungen an ähnliche Erfahrungen:
Eine Frau steht am Kassenschalter und versucht der – offensichtlich nicht besonders buchversierten – Verkäuferin die gedruckte Literatur zu beschreiben, die sie gerade sucht, um den angekündigten Regentag gemütlich auf dem Sofa zu verbringen. Leider – oder zum Glück – fallen ihr weder Titel noch Autor ein. Nachdem sie es erfolglos mit Beschreibungen des groben Inhalts, den sie offensichtlich aus einer Besprechung kennt, versucht hat, fällt ihr ein, wie das Cover aussieht: gelb, rote Schrift, hochkant gesetzt „und ein Stoffhase ist drauf“. Das ist die Zauberformel für die Verkäuferin, die sichtbar erleichtert „Simpel“ von Marie-Aude Murail aus dem Regal zieht.

„Dabei ist das Buch sogar mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet worden“, ergänzt Inken und ist dabei zumindest ein ganz kleines bisschen empört über diese Wissenslücke.

„Jedenfalls hab ich mir gedacht: Warum nicht mal Bücher nach einem anderen System sortieren?“, leitet sie über und öffnet die große Flügeltür in den „Gelben Salon“. Da die Dorfbücherei ansonsten mangels Interesse hätte geschlossen werden müssen, gab der Gemeinderat ihr freie Hand und ein Jahr Zeit, um ihre Idee zu testen. Die Probezeit hat die „Bibliophilothek“ – auch mit Hilfe vieler engagierter Unterstützer – gut genutzt. Das anfänglich teils verständnislose, teils bemitleidende Kopfschütteln einiger alteingesessener Dorfbewohner ist inzwischen zu einem begeisterten Nicken geworden. Immer wieder werden sie von Touristen gefragt, ob dies das Örtchen sei, wo die „Bibliophilothek“ zuhause sei.

Ich gucke mich im „Gelben Salon“ um: Hier steht „Simpel“ in illustrer Gesellschaft des Dudens der deutschen Rechtschreibung, einer ganzen Comic-Sammlung aus der Barks Library und diversen Klassikern in der Reclam-Ausgabe. „Einige Besucher gucken im Bibliothekskatalog nach einem bestimmten Buch, suchen es und finden zusätzlich interessante Nachbarn, die sie sonst nie entdecken würden. Ein paar von unseren Stammgästen entscheiden sich auch einfach für eine Farbe und stöbern dann los“, plaudert die selbst ernannte erste und vermutlich einzige Bilbiophilothekarin Deutschlands. „So überlisten wir unsere Gewohnheiten und spielen ein bisschen mit unserem Gehirn. Das macht einfach Spaß!“

Seit der Eröffnung vor inzwischen drei Jahren haben sich über 4.000 Buchfreunde im individuell programmierten Kundensystem eintragen lassen, täglich werden rund 250 Titel vorbestellt und ausgeliehen, etwa 100 werden nach ganz Deutschland verschickt. Bestellungen wie „Ich möchte die beiden roten Bücher, die neben Dostojewskis `Bösen Geistern` stehen“, sind für Inken und ihre drei Kolleginnen – alle gelernte Bibliothekarinnen – alltäglich. Klar, dass neben Titel und Autor auch die Cover im Katalog zu sehen sind.

Ein weiterer Effekt der Farbsortierung ist die einzigartige Stimmung in den Räumen: Eine Bücherwand ausschließlich mit Werken in verschiedenen Blautönen wirkt ganz anders als eine thematisch sortierte Buchreihe. Die Räume und sämtliches Mobiliar auf der Farbetage sind komplett weiß. Inken: „Wir haben uns sogar extra Gehäuse für unsere PC-Stationen anfertigen lassen.“

Von dem Querdenker-Virus infiziert, beginnt man, sich seltsame Fragen zu stellen: Ob Büchern mit einer ähnlichen Coverfarbe auch inhaltliche oder atmosphärische Übereinstimmungen haben? Ob ich ein Buch anders lese, wenn es einen anderen Einband hat? Gibt es farblich schlicht „falsche“ Cover? Inken schmunzelt, als ich meine Gedanken laut ausspreche. „Da sind Sie nicht die Erste, die sich das fragt. Wir haben gerade eine Studentin im Haus, die zu dem Thema eine wissenschaftliche Arbeit schreibt“, verrät sie mir. Die Ergebnisse der ersten entsprechenden Umfragen sind jedoch noch gut gehütete Geheimnisse.

Kein Geheimnis hingegen ist, was als Leitspruch der „Bibliophilothek“ an der Wand des Treppenhauses steht: „Eine verrückte Idee im Kopf öffnet die Tür für viele weitere.“ Auf eine weitere solche Idee ist die Systematik im 2. Stockwerk zurückzuführen: Hier sind die Bücher nach den Anfangsbuchstaben der Titel sortiert – ganz egal, ob Gartenbuch, Liebesroman oder Abhandlung über ein medizinisches Problem.

Ein bisschen geschummelt wird in der „Bibliophilothek“ allerdings auch: „Artikel wie `der`, `die` und `das` zählen bei uns nicht. Sonst hätten wir ein riesiges D-Regal. Das war uns zu langweilig“, gibt die Leiterin zu und sortiert schnell ein S-Buch aus dem W-Regal. „Manchmal wollen auch unsere Kunden ein bisschen mitspielen“, kommentiert sie das „Kuckucksbuch“ im W-Regal. „Bei den Farben fällt das natürlich viel schneller auf.“

Unter dem groß an die Wand gemalten Buchstaben W finde ich „Wild grillen“ – ein Kochbuch mit Wildrezepten neben Walter Moers Roman „Wilde Reise durch die Nacht“ und greife schließlich zu „Wilde Kaiser“. Ich blättere ein bisschen ziellos durch den schmalen Wanderführer für eine kleine Gebirgsgruppe in den Ostalpen und bin ganz begeistert von den Bergansichten. Ich bin eher der Meeresurlauber. Nach diesem Buch hätte ich also bestimmt nicht gezielt gesucht. Aber wer weiß, wohin die nächste Reise geht.

Welchen Weg ein neues Buch nimmt, ob es im ersten oder im zweiten Stockwerk landet, entscheiden der Zufall – und ein bisschen das Team der „Bibiolphilothek“. „Gefällt uns die Farbe besonders gut, kommt es in den ersten Stock“, nennt Inken ein Kriterium. Ein bisschen kreative Unordnung ist systemimmanent: Weil die Reihenfolge innerhalb der Farben und Anfangsbuchstaben beliebig ist, ergeben sich bei jeder Ausleihe neue Literatur-Nachbarschaften. „Wir hatten im ersten Jahr Besuch von einer Gruppe Bibliothekarinnen aus ganz Deutschland. Die sind ganz kribbelig geworden, weil ihnen das klare System gefehlt hat“, berichtet Inken. „Da muss man sich schon drauf einlassen wollen.“

Die Bibliophilothekarin hat es gewagt, und weil mit Erfolg belohnter Mut immer größer wird, befinden sich bereits weitere Sortierungsideen in der Testphase, genau genommen im „Ausprobier-Regal“ – einige davon kommen auch von begeisterten Kunden. Inken: „Nächsten Monat bestücken wir ein Regal mit lauter Büchern, in deren Titel das Wort `Honig` vorkommt.“ Manche Ideen stellten sich aber auch schon während der Umsetzung als blöd raus, räumt sie freimütig ein. Zum Beispiel die, ein Regal mit Büchern zu füllen, auf deren Cover eine Hand abgebildet ist. „Drei Tage lang haben wir unsere Kataloge durchforstet. Jedes Cover, auf dem ein Mensch abgebildet war, kam in Frage. Eine echte Gemeinsamkeit ist uns dann irgendwann selbst nicht mehr ins Auge gefallen, und wir haben das Projekt für beendet erklärt.“

Das neueste Angebot hingegen ist schon zwei Monate nach seiner Einführung ein echter Knüller: das monatliches Farb- oder Buchstaben-Abo für Freunde der „Bibliophilothek“. Über 100 Buchpakete werden monatlich zusammengestellt und abgeholt oder verschickt. Diese Zusatzangebote kosten Geld. „So, über Vorträge und Lesungen finanzieren wir uns und neue Bücher“, sagt Inken. „Ein bisschen Geldmangel ist bei uns trotzdem chronisch. Schließlich wollen wir unsere Angebote preislich so gestalten, dass möglichst viele Menschen daran teilhaben können.“ Ein Ausleihausweis für die „Bibliophilothek“ kostet daher – wie zum Start vor drei Jahren – weiterhin jährlich nur sechs Euro, Kinder bis 12 Jahre zahlen nichts.

Wer also nach einem Besuch – oder nach dem Lesen dieses Artikels – kreativ inspiriert eine Idee zur stabileren Finanzierung Deutschlands vermutlich einziger „Bibliophilothek“ hat, darf gern vorbeikommen. Alle anderen Buchfreunde und Querdenker natürlich auch. Ich bin mir sicher, auch sie werden von Inke Inken oder einer ihrer Kolleginnen mit einem fröhlichen „Schön, dass Sie da sind“, begrüßt.

Diese Inke Inken und ihre Bibliophilothek sind frei erfunden. Das Abo nach Farben würde ich aber gern einmal testen.