Ich habe keinen Balkon. Da ist schade, aber den gab es zu meiner Traumwohnung nicht dazu. Dafür denke ich gern an Balkone und an Balkontage und daran, was man auf ihnen und an ihnen so alles anstellen könnte. Lesen, Tee trinken, schreiben – zum Beispiel über Balkone und Balkonberufe. In meiner Fantasie ist dabei das Kreativkollektiv „Die Balkonistas“ gewachsen. Ich habe sie gleich interviewt.
Die Balkonistas gehen auf die Ballustrade
Ein Kreativkollektiv kümmert sich um des Deutschen kleinstes Naherholungsgebiet
Treffen sich eine Tischlerin, eine Gärtnermeisterin und ein Eisenschmied … Was sich liest wie der Einstieg zu einem meist mäßigen Partykalauer ist die Grundlage für eine richtig gute Idee. Tine, Bettie und Tim sind die Keimzelle des Berliner Kreativkollektivs „Die Balkonistas“. Ein Treffen auf dem Kollektivbalkon.
„Für den Stadtmenschen ist der Balkon sein eigenes kleine Naherholungsgebiet“, sagt Tine, streift die roten Clogs von den Füßen und legt die Beine auf eine gelb gestrichene Holzbank. In einem solchen Naherholungsgebiet hat im Sommer 2004 alles angefangen. Tim (31), Bettie (30) und Tine (31) hatten endlich eine passende Wohnung für ihre Großstadt-WG gefunden – mit Balkon. Das musste umgehend gefeiert werden. Im Freien, versteht sich. Tim (31): „Wir haben die Sektgläser auf den Knien balanciert. Unser Balkon war nämlich grad mal sechs Quadratmeter groß. Die drei alten Plastikstühle vom Vormieterpärchen haben wir noch draufgequetscht bekommen. An einen Tisch war da echt nicht mehr zu denken.“ Dran gedacht haben sie dann aber doch noch – ein paar Gläser und eine Tiefkühlpizza später. „Man müsste einfach …“, war wohl der häufigste Satzanfang an diesem Abend.
Noch bevor in der Wohnung die letzten Bücherkisten ausgepackt waren, hatte die angehende Tischlerin Bettie eine Bankkonstruktion entworfen – einmal entlang des Geländers, mit Platz für Kissen unter der Sitzfläche. Tim: „Ab da waren wir alle vom Balkonvirus infiziert.“ Bis zur offiziellen Gründung der „Balkonistas“ dauerte es zwar noch zwei Jahre, aber der winzige WG-Balkon war vom ersten Tag an nicht nur das kleinste Weinlokal, sondern auch Experimentierfeld für die drei Freunde, die so manches Ausbildungsprojekt auf ihren Freiluftwohnraum umsetzten. Betti: „Für uns war das Freiheit pur!“
Die Schulfreunde kommen aus einem kleinen Ort in Sachsen. Bettie: „Der Ausbildungsstart war unsere Chance, in die Großstadt zu ziehen. Du musst wissen: Wir kommen aus einem Kaff, das definitiv die beste Vorlage für Pusemuckel, Hintertupfingen und Kleinkleckersdorf abgibt: klein, irgendwie gemütlich, aber schon ganz schön piefig.“ „Da denkt man schnell an seine Grenzen“, ergänzt Tim. Der gelernte Eisenschmied angelt sich seinen Kaffeepott aus einer von ihm handgefertigten, genau passenden Halterung am Balkongeländer und gießt nach.
2006 standen Tine, Bettie und Tim dann – diesmal auf einem anderen, etwas größeren WG-Balkon – bei einer Party zufällig mit Ole und Zoe zusammen. Ole (46) ist Kunsttöpfer und hatte schon damals seine grob gefertigten und dann filigran bemalten Werke auf Märkten in ganz Deutschland verkauft, Zoes (23) „Laden“ war noch bis vor Kurzen das Internetportal Dawanda. Heute verkauft die Schneidermeisterin ihre selbst entworfenen und genähten Kreationen rund ums Wohnen in einer kleinen Boutique in Kreuzberg.
Schon bei der ersten Begegnung der fünf Kreativen gab es bald nur noch ein Thema: „Balkone“. „Nicht gerade das Partythema Nummer eins“, gibt Tim zu, „da bleibt man unter sich.“ An dem Abend haben sie sich in bester Bierstimmung zum Kreativkollektiv ernannt.
Am nächsten Morgen, beim spät verabredeten Dachterrassenfrühstück bei Ole kamen der Name und der Slogan dazu: „Kreativkollektiv Die Bakonistas – Wir peppen Ihren Balkon auf!“ Besonders kreativ ist zumindest der Slogan nicht. Das gibt auch Tim zu: „Uns fehlt wohl noch ein PR-Kopf im Kollektiv.“ Aber es funktioniert.
Kunden sind hauptsächlich Privatleute, die ihren Balkon gern mehr nutzen wollen, denen aber Ideen und Fähigkeiten fehlen, ihn entsprechend zu gestalten. „Dann kommen wir, vermessen alles bis in den kleinsten Winkel, überlegen zusammen mit den Leuten, was sie aus dem Balkon machen wollen und planen drauflos. Mal alle fünf, mal nur ein paar – ja nachdem, was am Ende dabei rauskommen soll“, sagt Tim, eindeutig der Wortführer der Gruppe. Vielleicht auch, weil er sonst als Schmiedemeister nicht so häufig zum Einsatz kommt und wenn, dann meist nur mit kleineren Arbeiten wie dem Kaffeebecherhalter zum Einhängen. Wer kann sich schließlich gleich eine ganz neue Brüstung schmieden lassen? Für Mieter kommt das zumindest nicht in Frage.
Am häufigsten soll der Balkon einfach ein kleiner Alltagsurlaubsort werden. Tim: „Dann tischlern wir passende Sitzmöglichkeiten, verkleiden die oft langweiligen Einfassungen mit farbenfrohen wasser- und winterfesten Stoffen, töpfern für jede noch so kleine Ecken passende Blumentöpfe und bepflanzen sie – je nach Wunsch – mit pflegeleichten Blumen oder Grünpflanzen.“ „Da ist zwar das Grundbedürfnis gleich, aber die Menschen und die Balkone machen jedes Projekt einmalig“, ergänzt Bettie, ganz Geschäftsfrau.
Natürlich gibt es auch die besonderen Projekte. „Einmal haben wir auf einem Balkon eine Freiluftküche gebaut – mit Platz für Gaskocher, ein paar Töpfe und Pfannen und natürlich jeder Menge Kräuter und Pflanzen mit essbaren Blüten“, kommt Tine ins Schwärmen. Oder der Großauftrag von einem kleinen Hotel: Acht Balkone und jeder sollte in ein anderes Land entführen. „Am Ende hatten wir zum Beispiel einen Hawai-Balkon mit einem winzigen Privatstrand, nicht ganz echter hawaianischer Töpferkunst und Bonsai-Palmen“, erzählt die Tischlerin und klickt auf ihrem Smartpone eine Bildergalerie mit Projekten an.
„Aber das Abgefahrenste bisher war ein schwarz bespannter `Horrorbalkon` mit Nagelbrettsitzbänken, gehäkelten Spinnennetzen und vielen fleischfressenden Pflanzen“, ergänzt Tine. Der wurde sogar in einen alternativen Reiseführer aufgenommen. Der Besitzer – ein Grufti – veranstaltet seitdem regelmäßig Mini-Führungen und Halloween-Partys für maximal vier Gäste und verdient damit ein bisschen Geld.
Geld verdinenen die Balkonistas mit ihrem Kreativkollektiv inzwischen auch – sogar ein bisschen mehr. Bisher arbeiten alle zwar noch weiter in ihren Hauptberufen. Die Aufträge, die sie als „Die Balkonistas“ annehmen, werden jedoch immer mehr. „Mal sehen. Vielleicht machen wir das in ein, zwei Jahren hauptberuflich“, überlegt Betti, „das werden wir demnächst auf unserem Balkon besprechen.“
Die Gärtnermeisterin zupft ein paar welke Blätter aus den Blumen. Sie schmunzelt, als sie meinen etwas irritierten Blick sieht. „Ja das sind piefigen Tantenbalkon-Begonien“, bestätigt sie meine schlimmsten Befürchtungen. „Eine Pflanzengattung aus der Familie der Schiefblattgewächse. Mit über 1000 Arten gehört diese Gattung zu den artenreichsten der Pflanzenwelt. Wegen ihres farbenprächtigen Laubes und der zierlichen Blüten dienen die Pflanzen häufig als Zierpflanzen auf dem Balkon“, doziert die Fachfrau mit halb auf die Nase heruntergezogener Hornbrille. Tim und Tine lachen. „Okay, sie sind piefig, aber ich mag sie: Sie sind bunt, viele Sorten sind mehrjährig und einige Exemplare überstehen sogar den Winter ohne Umzug ins Wohnzimmer“, zählt Bettie die Vorzüge auf. Wenn es um Pflanzen geht, wird die ansonsten eher zurückhaltende junge Frau gesprächig.
Leider ist meine Zeit für den Termin auf dem Balkon nun fast vorbei. Dieses Quintett werde ich im Auge behalten. Das wächst nämlich weiter, was zumindest Tines Bauch garantiert. Sie und Tim haben vor drei Jahren geheiratet. Die beiden erwarten in zwei Monaten ihr erstes Kind. Nicht nur Tines Bauch, auch die WG platzt zudem inzwischen trotz der kreativen Stauraum-Ideen der Freunde aus allen Nähten. Derzeit suchen sie ein gemeinsames Haus mit Garten – und mindestens einem Balkon, versteht sich.